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Kurator Dr. Walter Seidl

Carlos Aires

Carlos Aires’ fotografische Darstellungen thematisieren die Situation von sozialen Randgruppen, deren Leben nach wie nur einen marginalen Platz im medialen Bewusstsein findet. Ästhetisch überhöht der Künstler dabei die Situation des Dargestellten, wodurch sich stets eine romantische Komponente einstellt, die über die Komplikationen im Alltag sowie die unterschiedlichen psychischen Einzelrealitäten der abgebildeten Personen hinausgeht. Aires schafft es stets, den Aspekt des Unheimlichen zu berühren, der im Freud’schen Sinne aus den im Unterbewusstsein liegenden, verdrängten Erfahrungen und Komplexen resultiert. Freud verweist in diesem Zusammenhang auf das Wiederaufflammen von infantilen Weltbildern, die Erwachsene überwunden geglaubt haben, die aber dennoch in immer wiederkehrenden Bildern von bedrohlich wirkenden und Angst erregenden Situationen hervorkommen. Diese Bilder werden von Aires oftmals ironisch kommentiert, etwa wenn er kleinwüchsige Personen in Torero-Kostümen porträtiert, um an Fabel- und Mythenwesen zu erinnern. Kunsthistorisch knüpft er dadurch an die Arbeiten der amerikanischen Fotokünstlerin Diane Arbus an, die in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts mit ihren Porträts von ‚Freaks‘, kleinwüchsigen und Transgender-Personen die mediale Öffentlichkeit konfrontierte. Ob ästhetisch verklärt oder Angst erregend, auch im Bild eines an Hypertrichose erkrankten Jungen aus Südamerika, das kulturell an den ‚Werwolf‘-Mythos anschließt, versucht Aires auf Existenzphänomene außerhalb jeder Normalität aufmerksam zu machen und auf ein gesteigertes Bewusstsein für Lebenspraxen hinzuweisen, die in einem ständigen Konflikt mit den psychischen Realitäten des Alltags stehen.

Richard Crow

Der britische Künstler Richard Crow verweist in seiner Arbeit Heidi’s High auf den Mythos der in den Schweizer Alpen lebenden Figur Heidi als naturverbundenes, jungfräuliches Wesen und entlarvt dadurch den Prozess der Bergromantik mit ihrer scheinbaren Idylle, die in dem überschwänglichen Lächeln der Protagonistin im Bild zum Tragen kommt. Die in Deutsch und Italienisch angeschriebenen Wörter verlegen das Setting in die Südtiroler Landschaft, wodurch sich durch die zivilisatorische Erschließung der Umgebung die Frage nach dem Verlust einstiger romantischer Ideale stellt. Im Zuge der unaufhaltsam globalisierenden Tendenzen und einer kommunikationstechnischen Verbindung sämtlicher urbaner und ländlicher Gebiete erinnert der Heidi-Mythos gleichzeitig an eine vergangene Gesellschaft, in der der Alltag noch unbelasteter und weniger von Angst geprägt verlief. In Crows aktuellem Heidi-Bild kommt ein zwanghaftes Moment zum Ausdruck, das die Freiheit der Berge in eine psychische Enge münden lässt und die Frage aufwirft, wie das Leben der im Bild zu sehenden Heidi in eine übersprungshandlungsartige, affektive, da von der gewohnten urbanen Welt entfremdete Lebenssituation übergreift und wie die einstige romantische Bergidylle den Auswirkungen der Globalisierung weichen musste, in der die Refugien des Rückzugs vor psychischer Belastung immer rarer werden. Medientechnisch analysiert Crows Bild- und Textverweis die gegenwärtige Kartografisierung der Welt, die in jüngster Zeit etwa durch Google Earth vorgenommen wird, wodurch das Wort ‚camere‘ auf jene Metaebene der technisch aufzeichnenden Apparatur verweist.

Dustin Dis

Der in den USA lebende, international tätige Designer, Sound- und Videokünstler Dustin Dis beschäftigt sich in seiner Arbeit mit Wahrnehmungsmodellen des Alltags, die in ein Zusammenspiel sämtlicher Sinne münden, aber stets deren Wechselwirkung in Zusammenhang mit dem Visuellen betonen. Die aktuelle Arbeit stammt aus einer Fotoserie von in Flüssigkeiten getränkten Stofftieren und Miniaturwesen, die als Close-ups im Auge der BetrachterInnen eine unmittelbare Bedrohung hervorrufen. Die verschwommen erscheinenden Objekte in den Flüssigkeiten analysieren die psychischen Bedingungen, durch die Realität nur mehr in Schüben wahrgenommen wird und ihr Wahrheitsgehalt daher nicht länger nach Objektivitätskriterien überprüft werden kann. Die Problematik von Alkohol- bzw. Drogenkonsum unterschiedlicher Art zeigt die unterschätzte Notwendigkeit einer therapeutischen und medizinischen Behandlung, um mit den Widerständen gesellschaftlicher und persönlicher Probleme anders umzugehen. Den Beginn, auf den auch die Farbigkeit des Bildes verweist, machen oftmals Alkopops als Mischgetränke, die vor allem Jugendliche an den Alkoholismus heranführen. Extremfälle wie ein Delirium Tremens – als Inspirationsquelle gilt für den Künstler hier auch ein belgisches Bier mit demselben Namen – werden durch die im Bild zu sehende kleine Teufelsfigur angedeutet, deren Auge stechend durch das Glas blickt und zwischen Halluzination und bereits eingetretener Körperstarre wechselt. Der Umgang mit den Figuren ist ebenso spielerisch wie der mit Alkohol – als akzeptierte Gesellschaftsdroge, die wie ein Mahlstrom nicht nur den Teufel im Glas, sondern auch angestaute psychische Probleme spiralenförmig mit in den Abgrund zieht.

Petra Gerschner

Petra Gerschner gehört zu den politisch aktivistisch arbeitenden KünstlerInnen, die das Medium der Fotografie nach seiner inhaltlichen Aussagekraft im Spannungsfeld zwischen vordergründiger Objektivität und unabdingbarer Subjektivität untersuchen. Dabei setzt sich die Künstlerin in ihren Arbeiten mit herrschenden Identitätskonstruktionen und der Normierung von Geschlechterrollen auseinander. Für Psychic Realities greift Gerschner auf ein Bild aus ihrem vielschichtigen Archiv zurück, das trotz der analogen Überblendungen die Konstruiertheit einer digitalen Manipulation in sich trägt. Die Protagonistin der Handlung wird im Moment des Sprunges ins Unbekannte gezeigt. Erste Assoziationen erinnern an einen Verzweiflungssturz in die Tiefe, doch der zweite Blick zeigt einen lachenden kirschroten Mund, und wie zum Flug ausgebreitete Arme scheinen die Gesetze der Schwerkraft und die materiellen Begrenzungen des Körpers aufheben zu wollen. Die Überblendungen und das im Hintergrund erscheinende Gitter, das mit den Lichtbalken korreliert, verweisen auf die neuronale Interaktion, die den Moment des Dargestellten begleitet und dadurch das mentale Bewusstsein ins Zentrum der Betrachtung rückt. Wie können neurobiologische Korrelate von Menschen in psychischen Grenz- und Übergangssituationen bildkünstlerisch verhandelt werden? Gerschners Foto leitet zur Reflexion über die Situation von Menschen und ihrer innersten seelischen Membran über, die selten ans Äußere dringt und häufig lediglich im Dialog mit TherapeutIn oder engsten Vertrauten zu Tage tritt.

Marina Gržinic / Aina Šmid

Die slowenische Künstlerin und Theoretikerin Marina Gržinic , die gemeinsam mit Aina Šmid ein umfangreiches Œuvre an Videos und Filmen realisiert hat, gehört zu den wichtigsten AnalytikerInnen der post-sozialistischen Situation in Europa sowie des Einflusses globaler Machtsysteme auf den Wandel westlicher Lebenswelten. Gržinic sieht die einstige totalitäre Macht des Realsozialismus auf einen Demokratie lediglich vorgebenden, aber die Macht an sich reißenden Westen übergehen, der nach dem Kalten Krieg und der Erweiterung EU-staatlichen Terrains bis zur Schwarzmeerküste den einstigen Feind im Osten verloren und das ‚Andere‘ in psychoanalytischer Manier nun in sich selbst zu suchen hat. Wie können bipolare Entitäten, die einst getrennt existierten, innerhalb eines Systems aufgehen? Momente dieser inneren, vom Westen geförderten Spaltung zeigen sich exzessiv in den so genannten Plutonomies, Länder, in denen die Schere zwischen Reich und Arm immer mehr auseinandergeht und der Kapitalmarkt in den Händen einiger weniger liegt. Übertragen auf die Bevölkerung machen sich hier Momente schizophrener und affektiver Störungen breit, die von einem Kollektiv auf das Individuum übertragen werden. Das Bild einer am Boden kauernden Frau, in deren Richtung eine helfende Hand zeigt, fordert schließlich dazu auf, die Realität selbst in die Hand zu nehmen und das Individuelle im Vergleich zum Kollektiv zu betonen, um somit die eigene Identität gegenüber einer fremd definierten Macht zu ergründen.

Jens Haaning

Die Arbeiten des dänischen Künstlers Jens Haaning kreisen um kulturelle Übersetzungstechniken sowie das Konstrukt des ‚Eigenen‘ und ‚Fremden‘ im Kontext gesellschaftlicher und psychosozialer Wahrnehmung. Einen wesentlichen Aspekt stellt dabei die Arbeit mit Personen unterschiedlicher Sozialitäten dar, die sich in ein traditionelles Alltagsbild nur bedingt einfügen. Sei es die Arbeit mit verschiedenen ethnischen Gruppen, das Errichten einer ‚Office for the Exchange of Citizenship‘ in der Wiener Secession 1997, bei der sich BesucherInnen juristisch beraten lassen konnten, um ihre Staatsbürgerschaft zu wechseln, das Ausstellen von Medikamenten als psychotropische Substanzen, oder Portraits von psychiatrischen Patienten, die als Fashion Models posieren. Haanings Arbeiten führen in jenes kulturelle Konstrukt der Normalität Irritationsmomente ein, die routinemäßige Handlungen bzw. gesellschaftlich normiertes Verhalten hinterfragen. Die aktuelle Arbeit zeigt den Patienten Knud in einer psychiatrischen Klinik in Kopenhagen, den Haaning über die Jahre besuchte, um mit ihm über seine Erfahrungen zu sprechen. Ungeachtet von Knuds therapeutischem Prozess, der eine Behandlung mit Psychopharmaka einschließt, resümiert dieser über seinen Zugang zur menschlichen Existenz und deren Bedeutung. Das Text-insert im Bild ist an die Werbelinie einzelner Pharmaprodukte angepasst und vermittelt jenen für Haaning charakteristischen Irritationsgrad der Betrachtung. Die Arbeit Human Life dient somit als Ansatz zur Hinterfragung von Lebensmodellen und deren nicht immer kalkulierbaren Auswirkungen.

Hiroko Inoue

In ihrer Fotoarbeit Inside-Out nähert sich die japanische Künstlerin Hiroko Inoue psychischen Konstellationen, die den normativen Verlauf einer sozial vorformulierten Realität aufgrund unterschiedlich gelebter Erfahrungsmomente verlassen. Fenster von PatientInnenzimmer der Abteilung für Psychiatrie des Otto-Wagner-Spitals in Wien zeigen den Blick hinaus ins Freie sowie das Innen einer territorial und mental abgegrenzten Lebenswelt. Der etymologische Gedanke an das Freie als freiheit-stiftender Ort und Freiraum muss jedoch euphemistisch gelesen werden, wenn BetrachterInnen durch die Gitter der Fenster blicken. Historisch gesehen positioniert sich das Otto Wagner Spital zwischen einstigem Prunkspital mit seinen Jugendstilpavillons, in denen PatientInnen in Einzelzimmer untergebracht waren, bis hin zur ‚Heilpädagogischen Klinik der Stadt Wien – Am Spiegelgrund‘ von 1940 bis 1945, in der Kinder mit psychischen Auffälligkeiten ermordet wurden. Heute führt das Sozialmedizinische Zentrum Baumgartner Höhe unter anderem mehrere psychiatrische Abteilungen. Hinsichtlich der Betreuung von psychisch kranken Personen stellt sich in Inoues Arbeit die Frage nach adäquaten Modellen der Unterbringung. Während salutogene Aspekte der ruhigen und ästhetisch anspruchsvollen Umgebung des Otto Wagner Spitals nach wie vor von PatientenInnen und Angehörigen erlebt werden, stellt sich im Hintergrund der sozialpsychiatrischen Entwicklung der letzten drei Jahrzehnte die kritische Frage in Bezug auf die örtliche Konzentration der Versorgung. Neben der aktuellen Entwicklung in Richtung einer gemeindenahen, regionalen stationären Versorgung bestehen auch Tendenzen einer Verstärkung des ambulanten und semi-stationären Angebots.

Ursula Mayer

Die Foto- und Filmarbeiten der in London lebenden österreichischen Künstlerin Ursula Mayer beziehen sich auf das Verhältnis zwischen Architektur und der ihr eingeschriebenen psychologischen Komponenten. Wohndomizile und -häuser dienen der Erkundung von Begebenheiten, die sich zwischen den Räumen und den sich in ihnen aufhaltenden Charakteren ereignen. Die Spezifik der sich daraus erschließenden Handlungen fokussiert vor allem auf eine performative Achse zwischen den weiblichen Darstellerinnen und der architektonischen Konfiguration von Räumen und Objekten. Die vor allem für filmische Arbeiten als Grundlage dienenden Fotografien versuchen die psychische Bindung der Frauenfiguren an die Geschichte der einzelnen Häuser herauszuarbeiten. Die vorliegende Arbeit zeigt eine Frau auf der Treppe im Haus eines bekannten Londoner Architekten der 1930er Jahre. Ihr Gesichtsausdruck weist klare Konturen einer von Angst geplagten Frau auf, die in Hitchcock’scher Manier von der Unheimlichkeit und Ungewissheit der sich im Haus ereignenden Geschehnisse beeinflusst wird. Abseits dieser Information bildet die Angst im Antlitz der Frau jenes Merkmal, das BetrachterInnen auch ohne den spezifischen Hintergrund auffällt. Die hier verhandelte Ubiquität der Angstrezeption beruht auf der Tatsache, dass dieses Phänomen momentan am häufigsten unter allen psychischen Störungen auftaucht und auf eine Reihe von unterschiedlichen Faktoren zurückzuführen ist. Durch den enormen Druck, der wirtschaftlich und gesellschaftlich auf dem Individuum lastet, stellt sich letztendlich auch die therapeutische Frage, wie ein Leben ohne Angst überhaupt zu führen sei.

Boris Missirkov / Georgi Bogdanov

Boris Missirkov und Georgi Bogdanovs fotografische Darstellungen von hyperrealen Alltagssituationen gelten als Dokumente einer Verquickung von allgemeinen Erfahrungswerten und unkalkulierbaren psychosozialen Vorkommnissen. Dieses Phänomen demonstrieren die beiden Fotografen und Kameramänner in zahlreichen künstlerischen und werbetechnischen Arbeiten sowie in dem 2004 gedrehten Dokumentarfilm Georgi and the Butterflies über den Psychiater Dr. Georgi Lulchev, Direktor einer Heilanstalt für psychisch kranke Menschen in der Nähe von Sofia, der bizarre Geschäftsideen wie die Gründung einer Straußenfarm hegt, um den Fortbestand seiner finanzgeplagten Institution zu garantieren. Das Werk von Missirkov/Bogdanov beschäftigt sich meist mit irrealen Situationen des Alltags, die an psychische Grenzsituationen erinnern und die Frage nach Erfahrungsmomenten stellen, die unsere Vorstellungen von Normalität übertreffen. Die in zahlreichen Filmen formulierte Hyperrealität kehrt in Missirkov/Bogdanovs Arbeit in einer Doppelungsszene wieder, die zwei fast ident aussehende Frauen von hinten zeigt, deren Blick auf ein brennendes Haus gerichtet ist. Aufgenommen in Venedig erinnert die Situation an Szenen, wie sie etwa im letzten James Bond-Film vorkommen, in dem der Agent seine Gegenspielerin und Geliebte aus einem sinkenden Haus in Venedig zu befreien versucht. Während die Filmszene jedoch im Studio entstand, sind Missirkov/Bogdanov an realen Begebenheiten interessiert, die durch ihre bildliche Darstellung leicht überhöht erscheinen und an psychische Ausnahmezustände erinnern.

David Benjamin Sherry

David Benjamin Sherrys Aufnahme eines nackten Jungen am Strand, der eine Hand vors Gesicht hält, um die Tränen in den Augen zu verwischen, zeigt die Verletzlichkeit der ‚männlichen‘ Seele, die nur selten ins öffentliche Blickfeld gerät und daher auch im Bild durch die starke Sonneneinstrahlung kaum zu sehen ist. Dass affektive Störungen mehr Frauen als Männer betreffen, ist zwar statistisch erwiesen, jedoch stellt sich im breiten Feld psychischer Erkrankungen nach wie vor die Frage der gesellschaftlichen Akzeptanz von männlicher Instabilität. Der Hang zu einer Dramatisierung alltäglicher Phänomene suggeriert oftmals den Touch einer homosexuellen Prägung, da die öffentliche Darstellung von geschlechterspezifischen Formen psychischer Labilität nach wie vor den kulturellen Zuschreibungen folgt, die mit dem Prinzip ‚des‘ Männlichen und dem Prinzip ‚des‘ Weiblichen verbunden sind. Spätestens seit Judith Butlers Studien zur Aufhebung geschlechter- und genderspezifischer Differenzierungsmodelle in den 1990er Jahren treten männliche Befindlichkeitsebenen mit einer Queer Theory aus einer rein künstlerischen bzw. Subkulturecke heraus und in den Raum allgemeiner medialer und gesellschaftlicher Betrachtungen. Das Eingestehen von Schwäche gilt nicht mehr als genderspezifisches Phänomen, sondern als Resultat gesellschaftlicher Anforderungen an das Individuum, das sich in einem immer stärkeren Wettkampf gegen berufliche und soziale MitstreiterInnen behaupten muss und daher in einem gesteigertem Ausmaß mit der Angst vor dem eigenen Versagen zu kämpfen hat.

Psychic Realities

Die Frage nach dem Stellenwert der Kunst als relevantem Marker für gesellschaftliche Veränderungen ist stets mit der Frage nach aktuellen sozialen und ‚psychogeografischen‘ Befindlichkeitstendenzen oder -ebenen verbunden. Wenn es vor vier Jahrzehnten galt, Kunst als Mittel einzusetzen, um auf politisch nicht anerkannte sowie öffentlich bzw. medial nicht sichtbare Lebensformen und körperlich repräsentierte Identitätsformationen hinzuweisen, dann stellt sich nach einer zunehmenden Öffnung der Bildwelten durch Medien und Internet heute weniger die Frage nach dem körperlich Sichtbaren als dem dahinter liegenden mentalen Zustandsbild des Individuums, das nicht zuletzt als Resultat eines sich kontinuierlich beschleunigenden gesellschaftlichen Wandels gilt.

Kunsthistorisch betrachtet bilden die 1960er Jahre den Beginn gesellschaftlicher Veränderungsbestrebungen sowie einer gesteigerten Sichtbarkeit psychischer Verhaltensmodelle, die sich außerhalb jedes Konstruktes der ‚Normalität‘ befinden, die als kulturell signifikantes Moment gewisse Verhaltensweisen einfordert, jedoch persönliche Vorstellungen und Wünsche oftmals konterkariert. Entscheidend sind in vielen künstlerischen Arbeiten – und dies ungeachtet des Mediums – die gesellschaftlichen Bedingungen, die zu Verhaltensformen im Zusammenhang mit pathologischen Persönlichkeitsstrukturen führen und eine Reihe von diskriminatorischen Momenten nach sich ziehen. Den Ausgangspunkt künstlerischer Produktion, die sich mit Verhaltensmodellen abseits des öffentlich Sichtbaren auseinandersetzt und für eine Akzeptanz derselben eintritt, bilden die USA der 1960er und 1970er Jahre. Modelle des gesellschaftlichen Ein- und Ausschlusses wurden zu Beginn vor allem im Rahmen des Feminismus diskutiert, wobei die Problematik der Diskriminierung von Frauen vorwiegend mit Phänomenen wie Hysterie und Depression kurzgeschlossen wurde.

Einer der mittlerweile auch einem breiteren Publikum bekannten frühen Filme, der jenes Problem der psychischen Abhängigkeit vom sozialen Umfeld thematisiert und 1975 auch für einen Oscar nominiert wurde, ist John Cassavetes’ A Woman Under the Influence (Eine Frau unter Einfluss) aus dem Jahre 1974. Der Film konzentriert sich auf das Umfeld der mit dem Bauarbeiter Nick verheirateten Hausfrau Mabel, die außer ihrem Haushalt und der Versorgung der Kinder kein anderes Leben kennt und ihre innersten Bedürfnisse unterdrückt, bis sie schließlich fremdgeht und ihre Sorgen im Alkohol erdrückt. Die Peinlichkeit ihrer Handlung kommentiert ihr Mann gegenüber Freunden mit der Bemerkung, seine Frau sei nicht verrückt, sondern bloß etwas seltsam, wodurch jenes Konstrukt des Verrücktseins – im Englischen der ‚madness‘ – von vornherein hinterfragt wird. Vorkommnisse im Umgang mit Nachbarn führen schließlich dazu, dass Mabel sechs Monate in einer psychiatrischen Klinik verbringen muss, ehe sie wieder in ihr ‚normales‘ Leben zurückkehren kann. Der Film zeigt in anschaulicher Weise, wie bereits in den 1970er Jahren in den USA Probleme mentaler Abweichungsszenarien künstlerisch bzw. filmisch in der Öffentlichkeit verhandelt wurden und wie sich die Behandlung psychiatrischer PatientInnen automatisch ins Alltagsbild einfügt.

Während in Cassavetes’ Film der Aufenthalt in der Klinik dramaturgisch ausgespart bleibt, verhält es sich bei dem im gleichen Jahr nach Ken Keseys Romanvorlage von 1962 gedrehten Film One Flew Over the Cuckoo’s Nest (Einer flog über das Kuckucksnest) umgekehrt. Buch und Film erzählen von den Problemen in einer psychiatrischen Heilanstalt und dem Veränderungspotenzial, das sich durch PatientInnen und Personal einstellt. Die Handlung zeigt in aller Deutlichkeit die Ängste und Nöte psychiatrischer PatientInnen der 1960er und 1970er Jahre, einer Zeit, in der das Bewusstsein um diese Probleme zwar in den USA, nicht aber in Europa öffentlich thematisiert wurde. Gerade in der US-amerikanischen Literatur erschienen seit den 1960er Jahren eine Reihe von Werken zu den Themen Depression, Schizophrenie sowie ihrer therapeutischen Behandlung, die mittlerweile zum Kanon der Weltliteratur gehören, so etwa Sylvia Plaths Roman The Bell Jar (Die Glasglocke) von 1963. Dieser folgt in autobiografischer Manier den literarischen und künstlerischen Erforschungen von Depression anhand des Lebens der 19-jährigen Esther Greenwood, die als erfolgsverwöhnte Schülerin ein Stipendium für eine Eliteuniversität an der amerikanischen Ostküste erhält, jedoch aufgrund ihres mentalen Zustandes in eine Nervenheilanstalt eingeliefert werden muss.

In Europa wiederum gehört das Bild psychiatrischer PatientInnen bis heute nicht zu den allgemeinen Bestandteilen öffentlicher Wahrnehmung. Was in den USA bereits in den 1960er Jahren der Fall war, wurde in Westeuropa nur bedingt wahrgenommen. Hier war es mit Ausnahme der medizinischen Seite vorwiegend das künstlerische Feld, das auf Formen von sozialen und mentalen Abweichungen reagierte, nicht zuletzt auch aufgrund des kontinuierlichen Austausches, der zwischen den KünstlerInnen beider Kontinente erfolgte. In Österreich war es VALIE EXPORT, die sich als erste Künstlerin seit den späten 1960er Jahren mit mentalen Formationen vorwiegend der weiblichen Psyche auseinandersetzte und mit ihren Aktionen und Filmen von Anfang an in einem US-amerikanischen Kontext rezipiert wurde. Eine Zusammenschau der für EXPORTs frühes Schaffen wesentlichen Aspekte zeigt der Film Syntagma aus dem Jahr 1984, der im wortübertragenen, grammatikalischen Sinn eine zusammenhängende Kette an Elementen von EXPORTs künstlerischem Schaffen mit den Problemen in einer geschlechterspezifischen Sozialität verbindet. In Syntagma greift EXPORT jenes Moment der Gespaltenheit der weiblichen Psyche zwischen dem eigenen Körper und einer männlich bestimmten Umwelt auf und rekurriert dabei auf den britischen Psychiater R.D. Laing, der sich in seinem 1960 erschienenen Buch The Divided Self mit dem Problem der Schizophrenie auseinandersetzte und für eine soziale Akzeptanz jenes im Englischen schlicht als „madness“ bezeichneten Phänomens eintritt. Die bildliche Spaltung des Körpers von seiner Umwelt untermauert EXPORT mit dem Zitat: ‚The body clearly takes the position between me and the world, on the one hand, the body is the center of my world. On the other, it is an object in the world of the Others. 1 In EXPORTs Werk ist es von Anfang an zentral, dass der weibliche Körper nicht länger ein Objekt der (männlichen) Begierde darstellt, sondern in der Gesellschaft als vollrechtsfähiges Subjekt wahrgenommen wird. Die psychische Gespaltenheit, die sich in Syntagma bildlich anhand von Foto-Überlagerungen von Körperteilen wiederholt, sollte nicht nur als Verweis auf die Schizophrenie verstanden werden, sondern auch auf die gesellschaftlichen Missstände der 1970er Jahre, die ähnlich wie bei Cassavetes den Ursprung neurotischer, psychotischer sowie depressionsgeladener Handlungen bildeten und die es als solche in geschlechtlicher und sozialer Weise zu überwinden galt.

Wie hat sich das Verhältnis zwischen psychischen Befindlichkeiten, dem therapeutischen und sozialen Umgang und einer öffentlichen Sichtbarkeit 40 Jahre später in einem internationalen Kunstdiskurs manifestiert? Das vorliegende Projekt versucht, den aktuellen Stellenwert psychosozialer Veränderungen im künstlerischen Feld aufzugreifen und auf die Auseinandersetzung mit dem Bewusstsein für unterschiedliche psychische Konstellationen im medialen Kontext des 21. Jahrhunderts zu verweisen. Psychic Realities präsentiert zehn internationale künstlerische Ansätze, die sich im Grenzbereich zwischen sozial standardisiertem Verhalten und pathologisch konnotierten Persönlichkeitskonstruktionen bewegen und dadurch der Frage nachgehen, wie jene Verhaltensmuster, die nicht unbedingt mit gesellschaftlichen Normierungsmodellen einhergehen, entpathologisierenden Mechanismen unterworfen sind und sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Situationen manifestieren.

Die politischen und globalen Veränderungen der letzten Dekaden bedingten eine ungehinderte Verbreitung von Information durch Medien und Internet sowie eine Neuformulierung der Psychogeografien westlicher Lebensmodelle. In jüngsten Jahren wurde vor allem mehr Toleranz gegenüber heterogenen Lebenspraktiken eingefordert, die die Werke von VALIE EXPORT Teil einer künstlerischen Avantgarde werden ließen und die in einer globalisierten Welt mit einer schwindenden Ost-West-Dialektik neue Anforderungen an KünstlerInnen stellen. Für Letztere gilt es, Praktiken, die nicht in der Sphäre einer akzeptierten Realität bzw. Normalität angesiedelt sind und auf einem gesellschaftlichen Prüfstand stehen, zu reflektieren und diese in allgemein demokratisierende Prozesse einzugliedern. Dies betrifft ebenso die signifikant gewachsenen Anforderungen an das Individuum und den Einfluss der Informationsdichte in medialer und beruflicher Hinsicht, der eine räumliche  und zeitliche Flexibilität im öffentlichen und privaten Umfeld einfordert. Dieser soziale Wandel bedingt individuelle psychologische und biologische Veränderungen, die sich in letzter Konsequenz auch in den Veränderungen der Gesellschaft widerspiegeln. Verstärkter Druck sowie permanenter örtlicher Wechsel als lebensnotwendige Elemente beruflicher Herausforderungen schaffen Zonen der Prekarität, die sich auf den Lebensrhythmus
auswirken, chronobiologische Dissonanzen hervorrufen und auch zu psychischen Erkrankungen führen.

Die für Psychic Realities eingeladenen KünstlerInnen greifen Modelle einer gegenwärtigen Lebenspraxis auf und gehen dabei auf unterschiedliche Problematiken von psychopathologischen Auffälligkeitsverhalten ein, die von Alkohol als anerkannte Alltagsdroge bis zu bipolaren Störungen, Angst und Depression sowie den Ergebnissen therapeutischer und medikamentöser Behandlungen reichen. Die visuelle Darstellung psychischer Abweichungsmomente rückt die dadurch entstehenden Realitätsverhältnisse ebenso als berechtigte Lebensumstände ins Bild und verweist auf einen in der Öffentlichkeit oftmals verdrängten Alltag, der laut EU-Grünbuch von 2005 in Europa jede/n vierte/n BürgerIn betrifft. Aufgrund der Inkompatibilität psychischer Devianz mit einer sozialen Akzeptanz wird hier vermerkt: ‚Nach wie vor kommt es zu Stigmatisierung, Diskriminierung und Missachtung der Menschenrechte und der Menschenwürde psychisch kranker und geistig behinderter Menschen. Dies stellt europäische Grundwerte in Frage. 2 Behinderungen mentaler und physischer Art werden in Europa nach wie vor aus dem Alltagsbild und seiner visuellen Verbreitung entfernt, was sich auch in der Vermarktung gesellschaftlicher Realitäten widerspiegelt. Der jahrzehntelange Vorsprung der USA hinsichtlich einer angestrebten Entdiskriminierung von ‚mentally and physically challenged people‘ macht sich an zahlreichen Konsumprodukten bemerkbar. Ein Beispiel ist die Produktion einer Barbie Puppe im Rollstuhl – existent in den USA, aber undenkbar in Europa. Ebenso verhält es sich mit der Akzeptanz von psychisch bedingten Einschränkungen im Alltag.

Wie unterschiedlich die Auswirkungen im Alltag sein können, zeigen zahlreiche Studien, die sich auch in den vorliegenden künstlerischen Arbeiten manifestieren. Die am meisten steigende Störung der letzten Jahre ist die Angst. Bereits seit den 1950er Jahren in den USA weit verbreitet, wächst diese vor allem durch das wirtschaftliche Wachstum und die Furcht des Individuums vor einer Unzulänglichkeit im Berufsleben. Ob Europa, Japan oder die USA, die Tendenz ist vor allem in den wirtschaftlich florierenden Ländern steigend und übertrifft gegenwärtig alle anderen psychischen Erkrankungen. Während sich vor allem die Behandlung von Demenzerkrankungen wirtschaftlich durch hohe Kosten auswirkt, gefährden Angststörungen die allgemeine psychische Gesundheit, die die WHO als ‚Zustand des Wohlbefindens, in dem der Einzelne seine Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv und fruchtbar arbeiten kann und imstande ist, etwas zu seiner Gemeinschaft beizutragen‘, definiert. 3 Wie unterschiedlich Leistungen, Fähigkeiten und Empfindungen sein können, die dennoch produktiv zu einer Vielfalt an lebensnotwendigen Erfahrungen beitragen, zeigt Psychic Realities anhand von
Situationen, die als Resultat alltäglicher bzw. situationsbedingter Entwicklungen auf Individuen aller Art ihren Einfluss nehmen.

  • 1 VALIE EXPORT. Syntagma, Wien: 1984, 18 min. Vertrieb: Sixpackfilm.
  • 2 GRÜNBUCH. Die psychische Gesundheit der Bevölkerung verbessern – Entwicklung
einer Strategie für die Förderung der psychischen Gesundheit in der Europäischen
Union. Brüssel: 14.10.2005, KOM (2005) 484, S. 3.
  • 3 Ibid, S. 4.

Psychic Realities Katalog (PDF)